Erik Orsenna: Auf der Spur des Papiers

Eine Liebeserklärung

Um es gleich zu sagen: Dieses Buch ist keine „klassische“ Geschichte des Papiers. Und doch geht es (auch) um die Anfänge der Papierherstellung in China und die langsame Verbreitung des Papiers Richtung Europa. Sein Siegeszug wird anhand zahlreicher Beispiele aus vielen Teilen der Welt dargestellt. Der Bretone Erik Orsenna ist der Spur des von ihm so geliebten Papiers trotz Auf der Spur des Papiersmancher Hindernisse gefolgt. Er lässt uns in vergangene Zeiten eintauchen und erzählt uns interessante, manchmal anrührende, manchmal auch abenteuerliche Geschichten über diesen wunderbaren Beschreibstoff, der Papyrus und Pergament ablöste und – zum Beispiel – die Herstellung von Büchern wesentlich preiswerter machte.

Aber „Auf der Spur des Papiers“ ist kein Buch, das den Blick ausschließlich auf die Vergangenheit richtet. Eher im Gegenteil – die Gegenwart nimmt breiten Raum ein. Die Art und Weise, wie wir heute Papier produzieren, unter welchen Bedingungen wir den Rohstoff für die Papierherstellung – zumeist Holz – gewinnen, ökonomische wie ökologische Aspekte, Forschungsarbeiten, die künftige Einsatzmöglichkeiten von Papier denkbar werden lassen – all diese Facetten werden von Erik Orsenna aufgezeigt.

Das Buch gliedert sich in die beiden Teile „Papiere vergangener Zeiten“ und „Heutiges Papier“. Die große Tour in alle möglichen Teile der Welt führt zunächst folgerichtig in das Herkunftsland China zu „Haltepunkten“ entlang der Seidenstraße, dem wichtigen Handelsweg Richtung Westen. Schon bald führt uns der Autor nach Europa, wo in Italien (Fabriano) seit Mitte des 13. Jahrhunderts Papiermühlen gebaut wurden.

Dann geht es nach Japan und wieder zurück nach Frankreich; ein chronologisches Nachzeichnen des Wegs, den das Papier nahm, vermag ich nicht zu erkennen. Ich weiß auch nicht, ob die Abfolge der Kapitel die einzelnen Etappen der ausgiebigen Tour des Autors exakt widerspiegelt. Das ist für dieses im Stil von kurzen Reportagen geschriebene Buch aber auch nicht wirklich wichtig.

Um dem Papier auf die Spur zu kommen, besuchen wir u. a. in Orsennas Heimatland Frankreich die Bibliothèque nationale; dort werden bedeutende Manuskripte aufbewahrt, darunter das aus Ägypten stammende wohl älteste Buch der Welt. Erzählt wird aber auch das gefährliche Leben der Lumpensammler im Elsass des 18. Jahrhunderts (Lumpen waren, bis man anfing, Holz zu verwenden, der Hauptrohstoff für die Papierherstellung); in der Ardeche begibt sich Orsenna auf die Spur des Papierfabrikanten Montgolfier, dessen Söhne Etienne und Joseph auch dank des geschickten Einsatzes von Papier beim Ballonbau zu Pionieren der Luftfahrt wurden.

Eines der Reiseziele Orsennas ist Japan. In Echizen wird er Zeuge der dortigen traditionellen Papierherstellung aus den drei Straucharten Kozo, Mitsumata und vor allem Gampi, der es erlaubt, Bogen von außergewöhnlicher Feinheit herzustellen.

Bei diesen Beispielen aus der historischen Betrachtungsweise will ich es bewenden lassen. Orsenna bietet uns – das ist hoffentlich schon deutlich geworden – eine bunte Mischung aus Geschichte und Geschichten, aus Informativem und Unterhaltsamem.

Im 2. Teil des Buches begleiten wir den Autor zu Stätten der Holzproduktion und Holzfällerei in Kanada, Russland und Schweden. Holz ist längst der Hauptrohstoff geworden, aus dem der für die Papierherstellung benötigte Papierbrei hergestellt wird. In diesen Kapiteln geht Orsenna bei Besichtigungen und Gesprächen „vor Ort“ den Themen Kahlschlag, Verschmutzung, Umweltschutz, Recycling nach. Die Globalisierung wird anhand von Familienunternehmen in Indien thematisiert, die für „global player“ in schmutzigen Kleinstwerkstätten Teile für Lautsprecher herstellen.

Längst nicht mehr alle Papierfabriken produzieren den benötigten Papierbrei selbst. Es gibt Unternehmen, die sich ganz auf die Herstellung dieses „Stoffs“ für die Papierherstellung spezialisiert haben. Das angesichts seiner Produktionsmenge weltweit zweitgrößte Unternehmen dieser Art, April in Indonesien, bietet auf seiner riesigen Fläche ein Bild des Schreckens. Das Firmengelände wird – Orsenna hat das bei seiner gefährlichen Annäherung selbst erlebt – scharf überwacht, die Rechte der angestammten Einwohner werden grob missachtet, und es wird ohne jede Rücksichtnahme etwa auf Nachhaltigkeit abgeholzt, abgeholzt, abgeholzt …

Erik Orsenna ist ein Weltreisender, der genau beobachtet. In seinen Reportagen zeigt er eine Unmenge an Facetten rund um das Thema Papier auf: die schönen, die poetischen, die Wohlfühl-Aspekte ebenso wie die harten ökonomischen. Eine vorsichtige Zuversicht kommt auf, wenn man liest, dass die Papierhersteller wie Holzproduzenten offenbar zunehmend ihre Verantwortung für Ökologie, für nachhaltiges Wirtschaften erkennen und Maßnahmen ergreifen. Aber noch längst nicht alle (s.o.)

Mein Fazit: Ich hatte ein mehr auf die Historie gerichtetes Buch erwartet, ein Buch, das den Siegeszug des Papiers von seinen Anfängen etwa bis zu seiner Etablierung in Europa schildert; ein Buch für Papierliebhaber, das zum Schwärmen verführt. Zu dieser Erwartungshaltung hat sicher die schöne Abbildung auf dem Buchumschlag beigetragen. Auf – zum Beispiel – die Darstellung aktueller geopolitischer Aspekte war ich nicht gefasst. Die Lektüre beider Teile des Buches ist aber auf jeden Fall lohnenswert. Erik Orsenna ist ein wunderbarer Erzähler, dem man gern folgt; der genau hinschaut und kritisch nachfragt; der seine Gesprächspartner mit wenigen Worten anschaulich skizziert; der humorvoll ist und der in diesem Buch viel Interessantes und Wissenswertes zu berichten weiß.

Das Buch regt zur Weiterbeschäftigung mit dem Thema Papier an.Leider enthält der Anhang mit den Literaturhinweisen ausschließlich Bücher, die in französischer Sprache erschienen sind. Wer die Muttersprache des Autors nicht beherrscht, muss sich also selber auf die Suche nach vertiefender Lektüre begeben.

„Auf der Spur des Papiers“ ist übrigens ein sorgsam gemachtes und – konsequenterweise – auf sehr schönem, sich angenehm anfühlenden Papier gedrucktes Buch. (Verlagsangabe: gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigen Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff).

Zum Abschluss noch ein etwas längeres Zitat aus dem Schlusskapitel über die Zukunft des Buches und des Papiers in einer digitalisierten, von Texten überfluteten Welt:

Aber bevor ein Buch ein Träger ist (Holz, Pergament, Stein, Sand oder … Papier), ist es vor allem eine Wahl. Die Wahl, einen bestimmten Inhalt unter allen möglichen Inhalten festzuhalten.

Und wer Wahl sagt, setzt jemanden voraus, der wählt. Je mehr Texte es geben wird, desto mehr glaube ich an die Unerlässlichkeit von Verlegern.

Je virtueller und unkörperlicher unsere Begegnungen werden, desto mehr glaube ich an die Notwendigkeit wirklicher Kontakte: Die (guten) Buchhandlungen werden für die Bücher das sein, was das lebendige Schauspiel für die DVDs ist.

Auch im Hinblick auf das Papier bin ich zuversichtlich. Jeder von uns trägt das Verlangen nach Langsamkeit, Stille, Einkehr in sich. Ich glaube, diesem Verlangen kann nur das Papier antworten.
Vielleicht, weil es in erster Linie aus Wasser gemacht ist?
Wie wir.

Erik Orsenna
Auf der Spur des Papiers
Eine Liebeserklärung
C. H. Beck 2014, 336 Seiten, 19,95 EUR

 

5 Gedanken zu “Erik Orsenna: Auf der Spur des Papiers

  1. Papier ist mein Arbeitsmittel, Ingrid. Zum Zeichnen ist es mein Medium aber zum Schreiben ist mein Medium der Rechner. Um keine Daten zu verlieren, habe ich vom Stand meiner Arbeit drei Festplatten, eine „ausgelagert“ bei einer Person meines Vertrauens. Natürlich führe ich auch mein Werkverzeichnis digital. Mir ist bei jedem Blatt bewusst, dass dafür Resourcen verwendet werden, die vielleicht nicht mehr wiederbringbar sind.
    Einen schönen Sonntag von Susanne

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    1. Hallo Susanne, ich denke, das Nebeneinander von Papier und elektronischen Speichermedien ist eine sinnvolle „Arbeitsteilung“. Im übrigen habe ich in dem Buch gelesen, dass 2010 die Hälfte der Weltproduktion an Papier aus Altpapier gewonnen wurde. Das ist doch schon was. Aber wir müssen natürlich trotzdem alle auf einen sorgsamen Umgang mit Ressourcen achten… Einen schönen Rest-Sonntag, Ingrid

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  2. Liebe Ingrid,
    was für eine schöne Rezension, die den Gehalt dieses Buches sehr gut trifft. In meinem Blog habe ich das Buch ebenfalls vorgestellt:

    Erik Orsenna: Auf der Spur des Papiers – Eine Liebeserklärung


    Ähnlich wie du hatte ich zwar etwas anderes erwartet, war aber nicht enttäuscht, weil Orsenna so interessante Begegnungen schildert und auf Aspekte eingeht, um die ich mich sonst vielleicht nicht gekümmert hätte, gerade im 2. Teil seines Buches. Die Lektüre war auf jeden Fall ein Gewinn!
    Viele Grüße Petra

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    1. Danke für Deinen netten – ersten – Kommentar auf DruckSchrift und den Hinweis auf Deine eigene Besprechung. Ich habe gerade schon mal auf die Schnelle einen ersten Blick riskiert und werde mich noch zu Deinem eigenen Beitrag äußern. Schön, dass wir in der Einschätzung des Buches übereinstimmen. Ein schönes Wochenende, Ingrid

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