Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht

„Tagsüber locken mich die Konzentration und das Systematische; nachts kann ich mich mit einer schon beinahe unbekümmerten Leichtigkeit der Lektüre hingeben.“ (Alberto Manguel)

Auch wenn der Titel es auf den ersten Blick nicht erkennen lässt: „Die Bibliothek bei Nacht“ ist das Pendant zu Manguel’s „Eine Geschichte des Lesens“  (Vorstellung in Druckschrift Die Bibliothek bei Nachthier). Und ebenso informativ, interessant und zugleich unterhaltsam. Hier und da kommt es fast zwangsläufig schon mal zu Überschneidungen; das stört aber nicht.

Beiden Büchern ist zu eigen, dass sie „Geschichte“ nicht chronologisch erzählen. Manguel greift einzelne Themenfelder heraus, die er dann unter unterschiedlichsten Aspekten näher beleuchtet. Dabei entführt er die Leserschaft in längst vergangene Jahrhunderte, in Gegenden in allen möglichen Teilen der Welt, zu ganz großen und ganz kleinen Bibliotheken (berührend die Schilderung der Kinder-„Bibliothek“ im Konzentrationslager Birkenau [ca. 8-10 Bände]) und zitiert zur Untermauerung seiner Betrachtungen Autoren aus aller Herren Länder.

Die Existenz jeder Bibliothek, selbst meiner eigenen, gibt dem Leser einen Begriff davon, worum es beim Handwerk des Lesens in Wirklichkeit geht, ein Handwerk, das sich gegen die Zwänge der Zeit stemmt, indem es Bruchstücke der Vergangenheit in die Gegenwart hereinholt.

Themen sind u. a. die „ideale Bibliothek“, also die Ansprüche, die Bibliotheken und ihre Gründer an ihre Büchersammlungen haben (nach den Vorgaben von König Ptolomäus I. zum Beispiel sollte die legendäre Bibliothek von Alexandria sämtliche Bücher sämtlicher Völker der Erde vereinen); Fragen architektonischer Gestaltung und deren Auswirkung auf den Charakter der Bibliothek und das Nutzungsverhalten der Leser; Gründung, Sinn und Zweck von Nationalbibliotheken und der Zugang zu ihnen;  Bibliotheken, die mit dem Ziel,  die kulturelle Identität unterworfener Völker oder Volksgruppen auszulöschen, von den Machthabern zerstört wurden; imaginäre Bücher und Bibliotheken; Entwicklung von Ordnungssystemen und Katalogisierung von Büchersammlungen u.v.m.

Im Prinzip geht es bei diesem Buch um mehr oder weniger öffentliche Bibliotheken. Den Einstieg in die jeweilige Thematik beginnt Manguel aber stets mit Blick auf seine eigenen Leseerfahrungen und-gewohnheiten und seine enorm umfangreiche Privatbibliothek.

Die Nacht ist die Zeit des Lesens, in der ich spüre, wie die Reihen von Büchern mich verleiten, immer neue Beziehungen zwischen benachbarten Bänden herzustellen, ihnen eine gemeinsame Geschichte zu geben, einen Erinnerungsschnipsel mit einem anderen zu verknüpfen.

Das verleitet dann ganz schnell dazu, dass man auch über die eigene Büchersammlung nachdenkt und bei Manguel auf gut Bekanntes stößt; wenn der Autor z. B. erzählt, wie er sich nach seinem Umzug in ein kleines französisches Dorf daran machte, die nun als Bibliothek dienende umgebaute Scheune einzurichten. Schon im Vorfeld hatte er sich genau überlegt, nach welchen Kriterien er seine Bücher ordnen wollte. Eine Frage, mit der sich wahrscheinlich schon jeder befasst hat, der über eine größere Anzahl von Büchern verfügt und beim Sortieren – wie auch Manguel schließlich – feststellt, dass es kein absolut richtiges, durchgängig einhaltbares Ordnungssystem gibt, dass immer wieder Abweichungen, Kompromisse erforderlich sind. Hinzu kommt die Platznot, da Büchersammlungen sich quasi von selbst vermehren.

Ein höchst beunruhigendes Merkmal der physischen Welt aber trübt den Optimismus, den der Leser in jeder wohlgeordneten Bibliothek empfindet: die Begrenztheit des Raumes.

In einer Bibliothek bleibt ein leeres Regalbrett nicht lange leer.

Manguel ist auch nicht der Leser, der glaubt, jedes angefangene  Buch von der ersten bis zur letzten Seite lesen zu müssen. Als Gleichgesinnten führt er Samuel Johnson an, der sich nie verpflichtet fühlte, ein Buch zu Ende zu lesen oder auf der ersten Seite zu beginnen. „Wenn jemand in der Mitte eines Buches anfängt und weiterlesen will“, so zitiert Manguel Johnson’s Lesegewohnheiten, „dann sollte er sich nicht zwingen, zum Anfang zu blättern. Vielleicht spürt er den Wunsch zum Weiterlesen dann nicht mehr.“

Ich bin von Manguel immer wieder stark beeindruckt. Er, der in jungen Jahren den Wunsch hatte, Bibliothekar zu werden, hat von Kindesbeinen an mit großem Eifer gelesen, und er ist jemand, der sein unglaublich breites Wissen gern teilt. Vielleicht abgesehen von den Ausführungen über die Bibliothek Aby Warburgs ist Manguels Buch zudem gut zu lesen; der Autor ist nicht nur ungemein belesen, sondern auch ein ausgezeichneter Erzähler. Und: Ebenso wie seine „Geschichte des Lesens“ stecken auch in der „Bibliothek bei Nacht“ zahlreiche unausgesprochene Leseempfehlungen und Anregungen zur Vertiefung.

Kurz, und wie schon zu Beginn gesagt: „Die Bibliothek bei Nacht“ ist ein informatives, interessantes, unterhaltsames, also absolut lesenswertes Buch.

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Alberto Manguel
Die Bibliothek bei Nacht
S. Fischer Verlag 2007, 400 Seiten; seit 2009 als Fischer Taschenbuch im Handel
 

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4 Gedanken zu “Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht

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