Erstaunlich, unter wie vielen Aspekten man sich dem Thema „Notieren und Skizzieren“ nähern kann; faszinierend, welche unterschiedlichen Notier-Techniken berühmte Schriftsteller anwenden bzw. angewendet haben. Und damit sind wir gleich bei der Besonderheit dieses Buches: Es ist keine „Schreibschule“ herkömmlicher Art, kein Lehrbuch mit Geboten und Regeln – hier lernen wir am Beispiel von Meistern des Notierens und Schreibens überhaupt. Aber wir Lern- und Schreibwilligen müssen uns nicht allein „durchbeißen“ : in dem Schriftsteller, Literaturwissenschaftlicher und Professor für Kreatives Schreiben, Hanns-Josef Ortheil, haben wir einen kompetenten Führer an unserer Seite.
Ortheil unterteilt sein Buch in 4 große Kategorien:
- Elementares Notieren
- Bildliches Notieren
- Emotionen und Passionen notieren
- Klassisches Notieren
Die ersten 3 Kapitel enthalten jeweils 5, das 4. Kapitel enthält 4 Unterkategorien. Die Vorgehensweise Ortheils ist stets gleich. Vorgestellt wird in jeder Unterkategorie jeweils ein Text oder Textprojekt eines (meist) bekannten, manchmal auch berühmten Autors. Aus diesen Aufzeichnungen werden immer wieder erhellende, charakteristische Passagen zitiert; diese Notate stehen aber nicht für sich allein, sondern werden von Ortheil durch Kommentare verbunden und erläutert, so dass für heutige Leser/innen und Lernwillige die Besonderheiten erkennbar sind.
Ein paar Beispiele: Als Exempel für „Notieren als Registrieren“ (Elementares Notieren) wird Georges Perecs „Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen“ herangezogen. Das „Journal“ Gerald Manley Hopkins‘ dient als Anschauungsmaterial für „Notieren als genaues Zeichnen“ (Bildliches Notieren); „Notieren als Zuspitzen“ wird am Beispiel der Aufzeichnungen von Elias Canetti vermittelt (Emotionen und Passionen notieren); unter „Notieren und Exzerpieren“ schauen wir Walter Benjamin beim Anlegen seiner Exzerpte über die Schulter und erfahren, was es mit den Sudelbüchern von Georg Christoph Lichtenberg auf sich hat (Klassisches Notieren).
Allein schon das Studium der Vorgehensweise berühmter Zeitgenossen beim Anlegen von Notizen ist außerordentlich interessant. Aber „Schreiben dicht am Leben“ soll zum Selber-Schreiben anregen. Deshalb finden sich am Schluss jedes einzelnen Projekts Schreibaufgaben. Je nach (Unter-)Kategorie sind sie unterschiedlich schwer, aber die Auswahl ist jedem entsprechend seiner Neigung und (gegenwärtigen) Fähigkeiten selbst überlassen.
In seiner Nachbetrachtung am Schluss des Buches schreibt Ortheil:
Das tägliche Notieren [aber] hält den Sprachfluss in Bewegung. Schon das pure Aufschreiben bestimmter Daten und Zeichen der Außenwelt kann diesen Effekt haben. Darüber hinaus zieht der Schreibakt auch von sich aus Assoziationen, Bilder, Vergleiche und Metaphern an, die das Geschriebene ergänzen und neu strukturieren.
Solche Effekte stellen sich dadurch her, dass man als Notierer plötzlich etwas „schwarz auf weiß“ sieht. Was vorher nur flüchtige Sprache und Bildlichkeit war, erscheint nun gesetzt und geformt. Die Worte treiben sich nicht mehr herum, sondern sie erscheinen in einem bestimmten sprachlichen Feld. In diesem Feld wirken sie wie eine Festlegung. Aus offenem, nicht festgelegtem Sprechen und Denken wird so das strukturierte, sich festlegende Schreiben.
Ein schönes Plädoyer für das Schreiben, das Notieren.
Mich hat das Buch überzeugt. Ich habe viele Anregungen darin gefunden und und werde jetzt sehr bald entscheiden, in welcher Notiertechnik ich mich als erstem Schritt erproben und entwickeln will.
„Schreiben dicht am Leben“ ist übrigens Teil einer mehrere Titel umfassenden, von Ortheil herausgegebenen (aber nicht durchgängig von ihm verfassten) Reihe zum Thema „Kreatives Schreiben“. Unter anderem gibt es auch Bändchen zu „Schreiben Tag für Tag“ (Journal und Tagebuch) und „Schreiben unter Strom“ (Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co).
Schreiben dicht am Leben
Notieren und Skizzieren
von Hanns-Josef Ortheil
Duden-Verlag 2012, 160 Seiten, 14,95 EUR
Kennt einer von euch das Buch „Schreiben unter Strom“ von Ortheil, in dem es um das Schreiben in Facebook, Twitter und den Blogs geht? Ist das lesenswert?
LG Susanne
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Ich kenne es leider noch nicht, habe es aber auf meine Wunschliste gesetzt. Heute ist bei mir übrigens „Schreiben dicht am Leben“ angekommen und ich freue mich darauf, gleich mal einen Blick hinein zu werfen. 🙂
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Liebe Susanne, das Buch „Schreiben unter Strom“ ist zwar in der von Ortheil herausgegebenen Reihe „Kreatives Schreiben“ erschienen, stammt aber nicht aus seiner Feder (Autor ist Stephan Porombka). Das gilt auch für einige andere Titel der Reihe.
„Schreiben unter Strom“ kenne ich auch noch nicht, stelle es mir aber interessant vor.
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Danke für die Infos Ingrid, trotzdem finde ich es interessant, ich bin gespannt Mara, was du zum Buch schreibst.
Ich habe mir selber Büchersperre gegeben, bis ich meine Neuerwerbungen gelesen habe.
Einen schönen ABend wünscht euch Susanne
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Ein lobenswertes Vorhaben, keine neuen Bücher anzuschaffen, bevor nicht der vorhandene Stapel „abgebaut“ ist. Schaffst Du das? Ich nehme mir so etwas auch immer wieder einmal vor, aber dann …Grüße nach Berlin, Ingrid
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Bei den schönen interessanten Büchern die vorgestellt werden, wird es hart werden! Mal schauen, ob ich es schaffe!
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Ich habe alle fünf Bücher aus der Reihe von Ortheil und bin gerade dabei diese „abzuarbeiten“. Bei Schreiben unter Strom finde ich die andere/neue Perspektive auf Literatur interessant. Es geht z.B. um Romanerzählungen im Twitter-Format, transmediales Erzählen, E-Mail-Romane (doch etwas anders wie der klassische Briefroman). Insgesamt ein sehr spannendes Buch, Welches ich intensiv durcharbeiten werde, nachdem ich mit dem Band über Reisetagebücher fertig bin.
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Liebe Ingrid
Ein sehr interessantes Buch, das du hier sehr anschaulich vorstellst. Ich werde es mir auch bestellen. Das mit dem täglichen Schreiben ist so eine Sache. Ich würde gerne täglich schreiben, am liebsten in Notizbücher, von denen ich einige besitze. Dazu braucht man allerdings sehr viel Zeit, das sehe ich jeweils bei meinen Einträgen in die Reisetagebücher. Manchmal schreibe ich auch nur in meinen Gedanken, vor allem, wenn ich hinten auf dem Motorrad sitze und meine Augen in die Gegend schweifen lasse, entstehen, zumindest im Kopf, ganze Bücher – und manchmal ein Blogbeitrag 🙂
Vielen Dank für den tollen Tipp!
LG buechermaniac
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Liebe büchermaniac,
tägliches Schreiben kostet in der Tat viel Zeit. Bei Ortheils „Schreiben dicht am Leben“ wird das aber auch gar nicht unbedingt erwartet. Bei den vielen Varianten für Notate, die er vorstellt, ist man völlig frei, wann und wie oft man seine Notizen zu Papier bringt. – Vielleicht entstehen aus Deinen „Büchern im Kopf“ ja eines Tages mal „richtige“ Bücher. Das wäre doch schön. Aber Deine Blogbeiträge zu lesen, macht auch immer wieder Freude.
Herzliche Grüße, Ingrid
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Liebe Ingrid,
herzlichen Dank dafür, dass Du dieses Buch vorstellst. Ich mag einfach, wie er schreibt. Wie er erzählen und vermitteln kann. Zumal er es als Kind sehr schwierig fand, sich zu äußern und mitzuteilen.
Liebe Grüße von uns, mb
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In „Schreiben dicht am Leben“ kommt Ortheils Kunst, zu vermitteln (von der Du u. a. sprichst) wunderbar zur Geltung. Mehr habe ich von ihm bislang nicht gelesen, aber das wird sich bald ändern – ich habe gerade über den Bergischen Bibliotheksverbund seinen Roman „Das Kind, das nicht fragte“ bestellt. Herzliche Grüße, Ingrid
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Ich habe auch noch nie Schreibratgeber konsultiert aber mich interessiert das Buch trotzdem. Ich finde es erstaunlich, wie Hanns-Josef Ortheil durch die Blogs kreist….
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Ist Ortheil gegenwärtig großes Thema in Blogs? Ich habe nur gesehen, dass es vor ein paar Tagen eine Rezension seines Romans „Das Kind das nicht fragte“ in Buzzaldrinsblog gegeben hat, aber ich nehme natürlich (auch) nur einen Ausschnitt wahr.
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Die Liebesnähe habe ich öfter gelesen und auch selber darüber berichtet…. Dann deinen interessanten Beitrag hier….
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Ich habe auf den Literaturblogs, auf denen ich regelmäßig schaue, bisher noch nichts über ihn gelesen. Schade eigentlich. „Schreiben dicht am Leben“ habe ich mir übrigens heute morgen bestellt und freue mich sehr darauf. Ich werde berichten, wie es mir gefällt! 🙂
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Ich bin gespannt auf Dein Urteil. Karin Inderwirsch vom Blog Kaine Kolumnen hat sich „Schreiben dicht am Leben“ auch schon gekauft, und wie man ihren beiden Posts von gestern und heute entnehmen kann, empfindet sie es wohl als sehr interessant und hilfreich.
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Vielleicht habe ich ein wenig übertrieben…
tut mir leid *ganz kleinlaut*
Ich habe die Liebesnähe in einem Blog empfohlen bekommen, den ich leider vergessen habe, könnte „Büchern ändern Leben“ gewesen sein…oder auf „aus.gelesen“
Ich bin auf dem Sprung, meine Freundin und ich hängen gleich unsere Bilder auf,
Einen schönen Tag euch, Susanne
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Ich habe, um ehrlich zu sein, noch nie zu einem Schreibratgeber gegriffen bisher, habe es aber schon lange vor. Dieser hier klingt sehr reizvoll, nach dem ich auch seinen Roman gerade erst sehr gerne gelesen habe. Der Titel kommt auf jeden Fall auf meine Wunschliste, zunächst werde ich von Ortheil jedoch noch „Die Erfindung des Lebens“ lesen, dieses steht nämlich schon hier im Regal.
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Mit Büchern dieser Art hatte ich bislang auch keine Erfahrung. Ich habe „Schreiben dicht am Leben“ in der Stadtbibliothek entdeckt, und es hat mich sehr positiv überrascht.
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Das klingt nach einer angenehmen Abwechslung (nach all den Schreibratgebern), liebe Ingrid. Danke für den Tipp!
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Auf dem Einband, liebe Petra, ist von einer „literarischen Schreibwerkstatt als Meisterkurs“ die Rede. So kann man es sehen, und ich selbst habe quasi nebenbei bei der Lektüre auch so manche interessante literarische Neuentdeckung gemacht.
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Ich drehe schon länger meine Runden um dieses Buch und war mir unschlüssig, ob ich es kaufen soll oder nicht. Aber dank deiner tollen Besprechung, steht es nun definitiv auf meiner Kaufliste. Ich hatte die Befürchtung, dass es zu sehr eine Art Übungsbuch ist.
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Das Buch ist schon als „Lesebuch“ sehr interessant, wenn man z. B. verfolgen kann, wie Emile Zola für seinen Roman „Der Bauch von Paris“ in den Pariser Markthallen recherchiert und seine Beobachtungen zu Papier gebracht hat. Oder wenn von Peter K. Wehrli unter „Notieren als Fotografieren“ berichtet wird: Wehrli hatte eine längere Reise angetreten und seinen Fotoapparat vergessen; er begann dann die während der Reise beobachteten Bilder und Szenen mithilfe der Sprache einzufangen.
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